Meditationsecke
Viele von uns spüren, dass ein Sturm aufzieht, der vieles verändert. Die Welt verändert sich, und mit der Welt
verändert sich auch dein Leben. Was einmal gegolten hat, gilt nicht mehr; wer bei dir war, ist nun fern; Menschen hingegen,
die du nicht gekannt hast, die dir fremd waren, sind dir zu Freunden und Weggefährten geworden.
Wenn wir uns festhalten an dem, was einmal war, wird es schwierig. Denn wenn wir versuchen, dem Sturm mit der ängstlichen
Haltung des Festhaltens zu trotzen, bricht er uns und wir erleben eine sehr schmerzvolle Zeit. Wenn wir aber loslassen, wenn wir
uns sorgfältig prüfend auf Neues einlassen, hilft uns diese neugierige und mutige Haltung, einen guten Weg zu finden.
Niemand muss diesen Weg alleine gehen. Im Gegenteil, wir sollen uns sammeln, denn wir brauchen uns, sind einander trotz aller
Unterschiede Bereicherung und Stärkung.
Wenn wir uns begegnen, dann hat das immer auch eine spirituelle Seite. Vieles passiert bei unseren Begegnungen, das wir gar
nicht erkennen können. Lasst uns mutig sein. Wir sind in der geistigen Armut einer materialistischen Kultur aufgewachsen, und
wir spüren aber, dass die Antworten auf viele Fragen tiefer liegen müssen. Viele von uns beten, meditieren, spüren,
dass dieser aufziehende Sturm nicht nur eine weltliche Seite hat, sondern eine tiefergehende spirituelle Ursache. Unsere Werkzeuge
auf unserem gemeinsamen Weg sind nicht nur Wissen und Besitztümer. Das schafft noch keinen Weg und keine Gemeinsamkeit. Die
wichtigsten Werkzeuge auf unserem gemeinsamen Weg sind Wohlwollen, Liebe und Wahrhaftigkeit. Unser gemeinsamer Weg ist also nicht
nur ein äußerer Weg, sondern ein innerer.
Jeder Schritt meines inneren Weges beginnt zunächst im hörenden Schweigen. Hörendes Schweigen erfahre ich
als die wohl wichtigste Grundlage für den Gewinn innerer Klarheit. Wie will ich ja auch einen guten inneren Weg gehen
ohne innere Klarheit?
Wir haben endlich diesen wunderschönen kleinen Meditationsraum gestaltet – zwischen Schafstall und Werkstatt. Deshalb lade
ich ein zum gemeinsamen Schweigen. Und zu einer Tasse Tee. Kannst ja Kuchen mitbringen.
Noch ein paar Hintergrundgedanken:
Es ist schon eine ganze Weile her, da hab ich immer wieder mit ein paar Leuten ein
gemeinsames Schweige-Wochenende in der Adventszeit gemacht. Mir geht es bei solchen
"Veranstaltungen" gar nicht mal so sehr um Ruhe und Entspannung, sondern
vielmehr um die Verbindung von Ruhe und Besonnenheit und innerer Klarheit.
Na ja, jeder hat da wohl seinen eigenen Weg, seine eigenen Vorstellungen.
Gerne würde ich ein paar Worte zum Thema "Spiritualität" und
"Religiosität" verlieren.
Ich merke, dass Spiritualität fast immer mit unbändiger Kraft in allen Kulturen
einen Ausdruck finden will durch meist routinierte Handlungen oder durch eine bestimmte
Art zu sprechen. Diese speziellen Äußerungen in Worten und Handlungen nenne ich
Religiosität.
Ich habe Religiosität im Laufe der letzten fünfzehn Jahre schrittweise verloren bzw.
aufgegeben. Seit geraumer Zeit jedoch spüre ich ein Verlangen nach Versöhnung mit dem
Phänomen Religiosität, will aber derzeit noch keine "fremden" Formen von
Religiosität annehmen, sondern ich will schauen, was in meinem eigenen "Garten"
an Formen und Äußerungen wächst – auch an gemeinschaftlichen Formen.
Für mich ist die geplante Meditationsecke die erste explizite religiöse Ausdrucksform
seit Jahren.
Implizit ist vieles für mich natürlich Religion, also getragen von Spiritualität:
meine Sorge um die Tiere, der Hang zur Einfachheit, Sehnsucht nach Gemeinschaft, die Liebe zu den
Menschen. Das wird sich wohl auch nicht ändern.
Ich nenne diese explizit religiöse Ausdrucksform (Meditationsecke) "religiös",
weil der Raum nicht zu den unmittelbar notwendigen Belangen einer Selbstversorgerlandwirtschaft
gehört; er gehört also zum gestalteten Ausdruck meines inneren Weges. Mein innerer Weg
benötigt nicht diese ganz besondere Art des Ausdrucks (hier: Meditationsecke); ich bin ein
spiritueller Mensch ja nicht nur in der Meditationsecke, sondern auch bei meiner Arbeit oder in der
Küche.
Mit "all-religiös" meine ich keinen ungenauen und nicht durchreflektierten
synkretistischen Einheitsbrei, sondern die Begegnung eines sich individuell religiös
äußernden spirituellen Selbst mit einem anderen sich individuell religiös
äußernden spirituellen Selbst.
Ich erkenne, dass sich auch auf gesellschaftlicher Ebene seit einigen Jahrzehnten die westliche
Religiosität mit der östlichen auseinandersetzt. In der Meditationsecke habe ich dies zum Ausdruck
gebracht durch ein einfaches Kreuz einerseits und auf der gegenüberliegenden Wand durch einen usbekischen
Suzani andererseits. Auf dem Boden stehen eine Kerze und ein Räucherstäbchen, bald auch eine Klangschale.
Ich spiele immer wieder auf meiner Indianerflöte in einer recht religiösen, meditativen Haltung und
Einstellung. Ich persönlich bringe für mich dadurch zum Ausdruck, dass ich mich nicht von einem Ismus
vereinnahmen lassen will, dass ich alles prüfen will, dass das Göttliche mir in allem begegnen kann - und
wohl auch will.
Der zentrale Zweck des all-religiösen Raumes jedoch besteht nicht in einer Nebeneinanderstellung von
individuellen Arten und Weisen oder Ausdrucksformen, sondern im Schweigen, das sich jeglicher Religiosität
entledigt hat. Insofern könnte ich das christliche Kreuz und die Kerze, den muslimischen Suzani und die
buddhistischen Räucherstäbchen rausschmeißen (was ich aber nicht mache), denn das Schweigen ist
die a-religiöseste Äußerungsform von Spiritualität.
Und genau zu diesem Schweigen lade ich ein.
Zitate
Bhagavad Gita
Gegenwärtig, Arjuna, ist dein Sinn verwirrt von einander widerstreitenden Ideen und Philosophien. Wenn er
stetig und nicht abgelenkt in der Betrachtung des wahren inneren Selbst verweilen kann, wirst du erleuchtet und mit
dem Göttlichen in Liebe vollständig vereint werden. Eben darin erreicht Yoga seinen Gipfel: im Einswerden
des individuellen und des kosmischen Bewusstseins. Ebendies und nichts Geringeres ist das Ziel des Lebens!
Altes Testament
"Komm heraus und stell dich auf den Berg vor den Herrn!" Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger
Sturm, der Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem
Sturm kam ein Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes,
leises Säuseln. Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an
den Eingang der Höhle.
Ashtavakra Gita
Nachdem ich meine Identität mit dem höchsten Absoluten, dem Beobachter, erkannt habe, gibt es nur noch
vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber Bindung und Befreiung. Ich bin an nichts interessiert, nicht einmal
an der Erleuchtung.
Neues Testament
Er sagte: Wem ist das Reich Gottes ähnlich, womit soll ich es vergleichen? Es ist wie ein Senfkorn, das ein
Mann in seinem Garten in die Erde steckte; es wuchs und wurde zu einem Baum, und die Vögel des Himmels nisteten
in seinen Zweigen.
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