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Eine andere Sicht der Dinge
Während der Mangel an einem Gefühl (beispielsweise für Exponenzialität) angeboren ist, und wir
uns nicht dafür schämen, spüren wir intuitiv, dass der Mangel an einem Gefühl für komplexe Gleichgewichts-
oder Ungleichgewichtszustände kein natürlicher menschlicher Zustand ist. Egal wie, wir haben das Gefühl für
komplexe Gleichgewichts- und Ungleichgewichtszustände verloren – und eigentlich ist das peinlich. Das kann zu Leugnung
führen. "Die Menschen haben das Gefühl für Gleichgewicht verloren. Ich gehöre da selbstverständlich nicht
dazu." Mag sein, dass das Gefühl für diese Art von komplexen Gleichgwichtszuständen nicht angeboren ist, aber in
Heldenreisen, Initiationsriten, Vision Quests etc. erfahren Menschen ihr Eingebundensein und ihre tatsächliche Wirksamkeit. Ich glaube,
wenn wir eine wirkliche, echte gemeinschaftliche Selbstversorgung anstreben, dann muss jeder von uns auf seine eigene, private Heldenreise
gehen, die eigene Initiation anstreben.
In der Apostelgeschichte im Neuen Testament wird von der ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem berichtet. Sie
wollten alles gemeinsam haben. Aber sie sind kläglich gescheitert. Berichtet wird von einem Ehepaar, das damals schon dieses
"Gen" verloren hatte, aber das war wohl nur der Gipfel des kulturellen Eisbergs. Das war vor zweitausend Jahren. Um wieviel
mehr haben wir heutigen modernen Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts dieses "Gen" verloren? Wir sind mit unserem
Individualismus, Wissenschaftsrationalismus, Neoliberalismus noch viel weiter weg als die Leute aus der Jerusalemer Urgemeinde.
Wenn ich die paar wenigen Zeilen im Neuen Testament über diese Dynamik auf mich wirken lasse, dann bekomme
ich das Gefühl, dass die Einzelnen aus der Gemeinschaft ein Art individuellen initiatorischen Prozess hätten durchmachen
sollen. Keine Ahnung, warum das nicht stattgefunden hat. Ich vermute, dass das, was stattgefunden hat, in aller Begeisterung gut
gemeint war, aber es war aufgesetzt, erzwungen. Ich vermute, dass erst die Initiationsprozesse der Einzelnen die Grundlage sind
für gelingende gemeinschaftliche Selbstversorgung.
Was aber bedeutet das, wenn ich meine, dass individuelle Prozesse die Grundlage für gemeinschaftliche
Prozesse bilden sollen? Ich höre auf zu delegieren. Nicht ein bolivianisches Minenarbeiterkind oder eine chinesische
Fabrikarbeiterin ist verantwortlich für die Befriedigung meiner Bedürfnisse. Ich trete allein in Kontakt mit der mich
umgebenden Natur. Ich erfahre die Notwendigkeit meiner Arbeit. Mein Handeln in der mich umgebenden Natur führt zur Befriedigung
meiner Bedürfnisse. So erfahre ich, dass ich nicht mehr abhängig bin von meinen Eltern, von einem Arbeitgeber, von einem
gesellschaftlichen Versorgungssystem. Ja, nicht einmal von einer sympathischen und naturverbundenen und sehr solidarischen
Gemeinschaft, mit der ich mich gerne identifiziere. Ich erfahre den Wert der Dinge und ihren Stellenwert im natürlichen System.
Das ist wichtig. Wir haben nur verzerrte Wertvorstellungen. Was ist der Wert einer Orange in Baden Württemberg? Neunundneunzig
Cent. Was ist der Wert eines SmartPhones? All das sind Dinge, die mir auf meiner persönlichen Heldenreise nicht erreichbar sind.
Ich komme in Baden Württemberg nicht an eine Orange und ein SmartPhone kann ich nicht selbst herstellen, denn viele, viele
Menschen überall auf der Welt sind daran beteiligt. Was aber mit Karotten oder Honig? Was ist mit Eiern, Äpfeln oder einem Kotelett?
Der einzige konforme Wertmaßstab ist für den modernen Menschen das Preisschild auf einem Glas Rote Bete oder
vierhundertfünfzig Gramm Kirschmarmelade. Dann ist noch entscheidend: Wie viele Euro gibt mir mein Arbeitgeber pro Stunde? Wie viele
Minuten muss ich für seine Sache arbeiten, um ein Netz mit Zwiebeln kaufen zu können? Alles sehr abstrakt. Und doch vertraut;
so bin ich aufgewachsen. Der tatsächliche Wert? Ich kenne ihn nicht. Er ist mir nicht vertraut. Deshalb gehe ich auf meine eigene
private Heldenreise. Ich erfahre, dass ich es bin, der verantwortlich ist. Gewusst habe ich das schon immer. Ich habe viele Artikel
über nachhaltiges Wirtschaften in renommierten Wissenschaftsmagazinen gelesen. Jetzt aber erfahre ich es selbst. Ich übernehme
Verantwortung und verstehe in einer ungeahnten Tiefe, was Honig wirklich ist, die unermessliche Wunderwelt eines Gemüsegartens oder
ich kann das lustige Herumspringen eines Lammes im Frühjahr ganz neu deuten und einordnen.
Es gibt doch diese Wimmelbilder, auf denen man einfach nur gar nix erkennt. Erst mit langem Hinschauen kristallisiert
sich ein Bild heraus. Im Gegensatz zum Wimmelbild ist das Bild, das nun am Entstehen ist, nicht mehr nur zweidimensional, sondern
dreidimensional. Und das ist das eigentliche Bild.

Erst siehst du gar nix. Selbst, wenn du es einmal gesehen hast, ist dir das neue Sehen noch lange nicht vertraut. Du
siehst immer wieder nur die vertraute Zweidimensionalität. Das Eigentliche siehst du nicht. Aber immer mehr, immer besser.
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