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Gefangen im Thema Nummer eins


Othello Othello Wulle Anton und Fiocco Lamm Bauwagen Anton


 

INHALT

 

Gefangen im Thema Nummer eins

Angst vor den Nachbarn

Wulle und der Arzt

Raunächte

Der Junge im Schrank

Die Corona-Insel

Aliens

 


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Gefangen im Thema Nummer eins

Wie mir meine Tiere helfen, die Menschen ein wenig mehr zu lieben und die Welt ein bisschen besser zu verstehen.

 

Othello

 

Meine Frau Bettina und ich haben einen total lieben Labrador, Othello. Und natürlich muss ich Gassi gehen, bei jedem Wetter. Ich sag immer: "Bei so einem Wetter gehen nur Verrückte raus – und Leute mit Hunden."

 

Eigentlich ist Gassigehen eine schöne, ruhige Angelegenheit. Othello springt nicht mehr wegen jedem Knacksen im Gebüsch davon, um Geister oder Rehe zu jagen. Also kann ich ihn auch im Wald springen lassen, obwohl an einem Wanderparkplatz ein Schild steht, dass Hunde bitte an die Leine genommen werden sollen. Wenn jemand was sagt, dann nehme ich ihn an die Leine; war aber noch nicht nötig, denn bisher hat sich noch niemand an Othellos ruhigem Schnüffeln gestört. Ich glaube, niemand sagt was, weil er so lieb aussieht. Mit seinen acht Jahren wirkt er immer noch wie ein Welpe.

 

Bettina und ich haben eine kleine Selbstversorgerlandwirtschaft. Und eigentlich habe ich gar keine Lust mehr, über Corona zu reden. Corona. Und nochmal Corona. Auch wenn wir keinen Fernseher haben und die Coronainformationsflut gar nicht so richtig mitkriegen, hab ich dennoch keine Lust mehr auf das Thema. Eigentlich will ich viel lieber über unsere Schafe reden, dass der Bock humpelnd über die matschige Weide gestolpert ist, dass unsere Hühner grad keine Eier legen und die Bienen vielleicht den Winter nicht überleben.

 

Heute Morgen beim Gassigehen ist mir Karin begegnet mit ihrem etwas lahmen und sehr zutraulichen Ronni. Othello bellt Ronni immer an, aber Ronni hat wohl kapiert, dass Othello ein sehr zahnloses Labrador-Bellen von sich gibt. Ronni guckt dann immer zu mir hoch. Aber ich geb fremden Hunden nix.

 

Dieses Mal bellt Othello gar nicht. Er läuft ein bisschen den Waldweg voraus und schnuppert intensiv am Boden rum. Ronni wackelt ihm müde hinterher. Othello macht an einem Reisighaufen Halt. Und während er in dem Haufen irgendwas sucht, erzähle ich Karin von unserem Bock. Er ist riesig. Hundertzwanzig Kilo. Im Sommer war der Tierarzt da. Er hat gemeint, Wulle ist ein super Bock. Aber jetzt humpelt er trotzdem. Es gibt da diese Schafkrankheit, die heißt Moderhinke. Wenn Schafe das haben, dann ist das wirklich dumm, und deshalb hoffe ich, dass das Humpeln nicht von der Moderhinke kommt.

 

Egal. Wie ich es auch biege, wir kommen nicht um das Thema herum. Corona.

Karin erzählt, dass sie einen Job in einem Krankenhaus bekommen hat.

"Alle haben voll die Panik", meint sie. "Aber eigentlich ist es eher langweilig. Ich steh die ganze Zeit am Eingang vom Krankenhaus rum und muss bei allen Leuten, die kommen, die Temperatur messen, ob die eine hohe Temperatur haben. In den Ohren."

"Und was passiert, wenn jemand hohe Temperatur hat?"

"Dann muss ich ihn wieder heimschicken. Aber ist bis jetzt noch kein einziges Mal vorgekommen."

Dann meint sie, sie denkt zurzeit viel an die DDR.

Othello hat etwas gefunden. Er schiebt mit seiner Schnauze energisch ein paar größere Zweige auf die Seite und fängt an, an der freigewordenen Stelle wie wild zu buddeln.

"Ich glaube, da ist eine Maus", sage ich. Karin nickt, und Ronni guckt Othello beim Buddeln zu.

Dann sind Karins Worte zu mir durchgedrungen.

"DDR?", frage ich. "Wieso DDR?"

"Alles ist alternativlos. Ich hab gehört, dass sogar Mail-Accounts und ganze Videokanäle gesperrt werden, wenn jemand eine andere Meinung hat." Sie schaut kurz rüber zu den Hunden. Aber die sind mit der Maus beschäftigt, die wohl schon lange in ihren Gängen das Weite gefunden hat. "Und alle sind so gehorsam." Kurze Pause. "Mir kommt es so vor, wie wenn die meisten Angst haben, was falsch zu machen."

Kurz denke ich an das Schild am Wanderparkplatz und dass Othello ganz frei und ohne Leine herumbuddelt.

Ich spreche reinstes Schwäbisch, Karin nicht. Erst jetzt fällt mir ein ganz leichter Ossi-Akzent auf. "Kommst du... äh." Meine Zunge stolpert. Bin ich jetzt im Bereich der Political Correctness gelandet? Bestimmt kann ich hier was falsch machen. Ossi-Deutschland darf man bestimmt nicht sagen. DDR ja auch nicht. "Man hört das überhaupt nicht so, äh... – Ich meine, also, wo bist du geboren?"

"In Riesa", sagt Karin. "Da kommen die Streichhölzer her."

Hab ich nicht gewusst. Ich kenn die Stadt nicht, also ist sie wohl in Ostdeutschland. Genau, Ostdeutschland. Ostdeutschland ist bestimmt politically correct. Ach, egal, vielleicht hab ich mir mit der heiklen Political Correctness was eingebildet. Vielleicht müsst ich mir mal wieder ein Große-Weite-Welt-Update gönnen. Das ist vielleicht die Kehrseite der Selbstversorgerlandwirtschaft. Ich kenn den Landhandel von innen auswendig und weiß, wo in der Nähe es das beste Hühnerfutter gibt, hab aber keine Ahnung, wie eine normale deutsche Mitbürgerin anzusprechen ist.

Karin scheint gar nix von meinem kulturellen Verunsicherungsintermezzo gemerkt zu haben. "Kennst du Dorothea?", fragt sie.

Ich schüttle den Kopf. "Ach doch! Die mit Leila?" Wie die meisten Hundehalter kenne ich die Hundenamen besser als die der zuständigen Halter. "Sieht aus wie eine Mischung aus Hyäne und Hamster."

Karin lacht. "Ja, genau die. Sie hatte Besuch von zwei Leuten. Am zweiten Weihnachtsfeiertag. Drei Parteien also."

Warum erzählt Karin nicht weiter? Ich schau sie an: "Und?"

"Kapierst du nicht? Sie hatte Angst."

"Vor was?"

"Na, vor den Nachbarn. So weit sind wir schon."

Ich habe das schon mal gehört, dass unsere Landesregierung es wünscht, dass wir uns gegenseitig anzeigen, wusste aber nicht, ob ich das glauben sollte.

Karin schaut auf die Uhr. Sie muss weiter. Ronni löst sich von Othello, um Frauchen zu folgen. Und auch Othello hat kapiert, dass es weitergeht, halt in eine andere Richtung. Super Hund.

Obwohl ich Karin echt mag, bin ich froh, dass ich jetzt wieder alleine bin. Das Wort "DDR" ist mir im Kopf. Aber ich will nicht daran denken. Also denke ich lieber an Wulle, den humpelnden Bock. Hoffentlich ist es keine Moderhinke. Nein, bestimmt ist es keine Moderhinke.

 

 

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