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Der Junge im Schrank


Othello Othello Wulle Anton und Fiocco Lamm Bauwagen Anton


 

INHALT

 

Gefangen im Thema Nummer eins

Angst vor den Nachbarn

Wulle und der Arzt

Raunächte

Der Junge im Schrank

Die Corona-Insel

Aliens

 


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Der Junge im Schrank

Wie mir meine Tiere helfen, die Menschen ein wenig mehr zu lieben und die Welt ein bisschen besser zu verstehen.

 

Im Jahre Null, als der Lockdown-Baseballschläger das erste Mal gegen den ziemlich unvorbereiteten Mittelstandsschädel krachte, war Bettinas norddeutscher Neffe Bente dreizehn Jahre alt. Das erste Mal war er mir jedoch begegnet, als wir mit unserem Labrador Othello von einer Radreise durch Skandinavien in Norddeutschland eintrudelten, da war er elf gewesen.

 

Bente war damals total begeistert von Othello und wollte ständig mit ihm Gassi gehen, um mit uns zusammen die Umgebung zu erkunden und uns alles zu zeigen, was einem Elfjährigen so an Sehenswürdigem in den Sinn kommen kann. Und als Dreizehnjähriger stieg er dann ganz alleine in den Zug, durchquerte die gesamte deutsche Coronapanik von Nord nach Süd mit ICE und Interregio, stieg bei uns im schwäbischen Ländle aus – und verkroch sich schnurstracks, mit Nintendo und Smartphone bewaffnet, in Bettinas Atelier, einem schön eingerichteten Bauwagen mit Schreibtisch, Computer, Spinnrad, Ofen und Gästebett. Und ich war irritiert.

 

Ich hatte viel zu tun. Der Gemüsegarten war ziemlich vernachlässigt, die Solaranlage hatte irgendwo einen ziemlichen Wackelkontakt und überhaupt wollten ja auch die ganzen Tiere gefüttert werden. Dennoch hätte ich mir gerne die Zeit aus dem Fleisch geschnitten, um Bente eine gute Zeit zu schenken. Aber er blieb beharrlich verhaftet mit seinem Bauwagenbett und seinen Bildschirmen.

 

Um das Atelier herum kümmerten sich der Riesenbock Wulle und sein Schafharem Antje, Sibille und Bärbel um einen ordentlichen Wiesenschnitt. Antje war hochträchtig, die beiden anderen wohl auch, aber das konnte man nicht so gut erkennen.

 

Während es in ganz Deutschland Kindern und Jugendlichen bei Strafe verboten war, in lebendige und tätige Interaktion mit ihrer Umwelt zu treten, um sich mit der Welt und miteinander auseinander zu setzen, waren ihre Eltern gezwungen, der wachsenden Macht eines gewaltigen Zocker- und Social-Media-Magneten nachzugeben und die pubertäre Synapsenneubildung ihrer Kinder digitalen Maschinen zu überlassen. Tertiärerfahrung statt Primärerfahrung. Wenn ich mich richtig entsinne, dann hatten nicht nur Steiner, Montessori oder Freinet andere Träume, sondern alle anderen Reformpädagogen auch, und vermutlich auch die meisten Lehrerinnen und Lehrer von heute.

 

Dann dachte ich: Vielleicht will er erwachsen werden? Vielleicht braucht Bente irgendeine tatsächlich in der realen Welt gegebene herausfordernde Notwendigkeit, um sich aus seiner digitalen Welt in die analoge hineinzuentfalten? Leidensdruck sozusagen.

 

Dann kam die Rettung. Es regnete.

 

Ich muss immer lachen, wenn ich die alten Western sehe, weil da die unasphaltierten Straßen in den Wildweststädten auch bei Regen blitzblank sind. Seit wir hier wohnen, vermute ich schwer, dass die Regisseure der alten Western keine Ahnung hatten von Matsch. Es ist eigentlich unmöglich zu beschreiben. Regelmäßig rutschen bei uns Leute aus, die uns besuchen, nachdem sie aus Angst vor glitschiger Hühnerkacke einen unfreiwilligen Tanz vergeblicher Reäquilibration vorgeführt haben. Bente tanzte nicht.

 

Wir essen nicht im Atelier, sondern im anderen Bauwagen, in dem Bettina und mir von unseren Hunden und Katzen freundlich Unterschlupf gewährt wird. Bente hatte zwar Gummistiefel dabei, um Rutschpartien zum Suppentopf ohne viel Gesichtsverlust hinter sich zu bringen, aber irgendwann hatte er die Schnauze voll.

 

Er schnappte sich einen alten Schubkarren, den er mit realer Muskelkraft über das ganze Gelände unseres vollkommen regenzermatschten Anwesens führte, um überall nicht gebrauchte Betonplatten zusammenzusammeln. Sind ziemlich schwer, die Dinger. Das gibt Credits, mein Lieber. Bente stapelte die Platten eine nach der anderen vorm Atelier übereinander zu einem Plattenturm und baute damit, im nächsten Level angekommen, einen vollkommen analogen Anti-Glitsch-Weg zum Hunde-und-Katzen-Bauwagen hinüber, in dem erfahrungsgemäß auf dem Holzofen der blubbernde Bonuspunkt wartete.

 

Ich hoffe, dass ich ein Schwarzseher bin. Denn dann sind manche Dinge besser als sie mir erscheinen. Aber manchmal glaube ich, dass unsere Gesellschaft zunehmend autistifiziert. Smartphone, Spielkonsolen, Tertiärerfahrung, Netflix, virtuelle Welt. Der verführte Mensch im abgedunkelten Zimmer. Der Mensch an der digitalen Maschine.

Bettina ist Lehrerin. Wenn sie nach einem ersten Schultag nach den Ferien wieder zu Hause ist, sagt sie oft: "Lauter müde Zombies mit rotgeränderten Augen."

 

Als wollte der Regen Bentes energischen Ausflug in die reale Welt belohnen, lugte nach zwei Tagen die Sonne hinter den Wolken hervor und trocknete Weg und Wiesen. Ich war im Garten mit den Starkzehrern beschäftigt und horchte auf. Antje. Schnell warf ich die Handhacke in die noch feuchte Erde und eilte rüber zum Atelier.

Zwei kleine, blutverschmierte Lämmer wackelten schon auf der glitzernden Wiese herum. Das dritte wurde gerade von Antje mühsam auf die Welt gepresst.

 

Ich klopfte an die Wand des Ateliers. Nichts.

 

Eines der Lämmer fiel um. Aber das ist normal. Dann öffnete sich die Tür des Ateliers.

"Komm", sagte ich.

"Ich muss nur noch schnell..."

"Nein, komm. Jetzt."

Bente kam raus, schloss die Tür zum Atelier und kam herüber auf die Wiese.

Dann standen wir einfach nur da und beobachteten die Geburt des dritten Lammes.

Die erschöpfte Antje richtete sich mit einem Ruck auf und leckte eines nach dem anderen sauber. Das größte der Lämmer stand unsicher auf und begann, ganz offensichtlich etwas an der Mutter zu suchen. Das Euter. Es wollte Milch. Das zweite Lamm folgte und suchte ebenfalls. Als beide fündig geworden waren und hektisch nuckelten, richtete sich auch das dritte Lamm auf, das kleinste, und schaute zu seinen Geschwistern hinüber. Ein Schaf hat nur zwei Zitzen am Euter. Dann muss eines halt immer warten. Und meistens ist das das Kleinste.

 

Falls sich in unserer Gesellschaft Ansätze einer transhumanistischen Autistifizierung entwickeln sollten, dann haben sich deren erste Wurzeln in Bentes Lebensgarten gut festgesetzt. Keine Ahnung, ob das Erlebte ihn berührte oder nicht. Irgendwann stieg er einfach wieder in den Zug, um zurück nach Norddeutschland zu fahren.

Ich wünsche mir sehr, dass das eine oder andere analoge Samenkorn in diesem jungen Garten überlebt.

 

 

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