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Wulle und der Arzt | ||
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Wulle und der ArztWie mir meine Tiere helfen, die Menschen ein wenig mehr zu lieben und die Welt ein bisschen besser zu verstehen.
Wulle ist ein richtig schwerer Schafbock. Im Sommer ist er mit seinen Damen und den Lämmern draußen auf der Weide, wo er letzten Sommer die Apfelbäume angeknabbert hat. Mensch, war ich sauer. Ich hab jetzt um jeden Baum einen Zaun gezogen. Jetzt im Winter sind die einjährigen Lämmer geschlachtet worden. Übrig bleiben jedes Jahr Wulle und die drei Mutterschafe. Die vier dürfen nicht mehr auf die große Weide, weil da ohnehin kein Gras mehr ist. Sie sind im Stall, wo es leckeres Heu gibt; oder sie lümmeln sich in der Nähe des Stalles, wo es ohne Ende Matsch gibt. Und das ist das Gefährliche, denn der Matsch kriecht, wenn es dumm läuft, zwischen Hufe und Hornhaut. Und das kann sich dann wüst entzünden.
Der Tierarzt ist ein richtiger Tierarzt. Mit Herz. Er kann's richtig gut mit den Tieren. Eine Weile haben wir nicht gewusst, ob wir uns siezen sollen oder duzen. Er ist jünger als ich, aber ich bin auf der sozialen Leiter doch ein paar offizielle Stufen weiter unten. Und so entwickelte sich das Du ein bisschen holprig. Jetzt jedenfalls duzen wir uns. Rainer. Ich hatte keine Ahnung, was er über das Thema Nummer eins denkt. Eigentlich ist er ja als Tierarzt vertraut mit dem Tragen von Mund- und Nasenbedeckungen. Jedenfalls hatte er grad so was nicht im Gesicht. Vielleicht hatte das was mit dem Thema seines Besuchs zu tun, Wulles Humpeln. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich das Thema ansprechen sollte. Ich pass mich in so kulturellen Dingen immer eher an. Ich war mal als Jugendlicher in Marokko, da hab ich mich auch an die Kultur angepasst und bin so rumgelaufen wie man da rumläuft. War ein bisschen künstlich, aufgesetzt, aber als Zeichen für interkulturelles Denken irgendwie trotzdem okay. Jetzt zurzeit geh nicht ich zu einer anderen Kultur, sondern die andere Kultur kommt mit all ihren Symbolen und Verhaltensweisen zu mir – und ich pass mich wieder an. Ich lerne, Nähe und Berührung zwar immer noch zuzulassen, aber halte mich höflich zurück. Wenn es dem Gegenüber genauso geht, dann ist es ein vorsichtiges Abchecken, wo der andere steht. Ach ja, und in meiner Hosentasche knäuelt sich ein Halstuch, das ich bei Bedarf um den Kopf binde, wobei ich die Augen bei der Wickelprozedur stets auslasse, damit ich noch was sehen kann.
Hundertzwanzig Kilo wiegt Wulle. Rainer und ich standen links und rechts von ihm ohne Mundschutz im Matsch. Ich bat Rainer, ihn am Hals zu halten und griff unter Wulles Bauch hindurch dessen Vorderfuß und Hinterfuß auf Rainers Seite. Wulle fand das doof und wollte weg, aber das war mir natürlich klar, weshalb ich ihn noch fester hielt und dabei mit den Knieen in den Matsch klatschte. Schnell gab ich meinem linken Fuß wieder einen guten Stand und zog mit einem Ruck Wulles Beine zu mir her. Dabei beugte ich mich nach links zu Rainer rüber. Ich wusste nicht, ob ihm das zu nah war wegen dem Social Distancing. Für einen Moment waren Wulles Vorderbeine wegen meiner nicht sehr artgerechten Intervention überkreuz und die Hinterbeine auch. Deshalb kippte er auch auf die Seite in den Matsch. "Wir haben keinen Mundschutz", keuchte ich außer Atem, aber froh, den Koloss umgedreht zu haben. Rainer hielt den verwirrten Schafbock fest, sah mich an und lachte. "Ach? Dafür krieg ich nachher einen Tee." "Geht in Ordnung." Rainer holte ein scharfes Schäfermesser hervor und raspelte Horn von Wulles Humpelhuf weg. "Alles okay. Das wird schnell wieder." "Keine Moderhinke?", fragte ich mit schmelzenden Sorgen. "Nein, eher nicht." Wir ließen Wulle wieder los. Er rappelte sich ein paar mal auf dem Boden hin und her, kam auf die Beine und trottete davon. Kein Humpeln mehr. "Na, passt ja", meinte Rainer. "Stephan, und jetzt kommt der Tee."
Bettina war leider nicht da. Sie ist so was von einer perfekten Gastgeberin. Aber Tee machen kann ich auch. In einer Thermoskanne entdeckte ich noch ein bisschen warmes Wasser, und da hängte ich einen von diesen Beuteln rein, an dem ein Faden mit einem Zettel dran hängt. Tee. So einfach ist das mit der Gastfreundschaft. Und dann gibt's noch ein paar Kekse dazu. Klar, Bettina kriegt das besser hin, und ich hab auch meine guten Seiten.
Draußen vorm Bauwagen liegt im Winter immer ein großer Haufen Holz. Ich überlegte, ob ich Rainer wegen Corona fragen sollte, was er meint, wuchtete einen Korb voll Holz in den Bauwagen und stopfte ein paar Scheite davon in den Ofen.
Kurze Zeit später hatten wir es kuschelig warm. Rainer saß auf der Bank hinterm Tisch und schaute sich um. Neben ihm auf dem Bett lag King Kong, ein schwarzer Kater, zusammengerollt wie ein etwas groß geratener schwarzer Ammonit. Rainer streckte seine Hand aus und kraulte das Tier. King Kong ließ sofort den Motor laufen. Das letzte Mal war Rainer im Spätsommer dagewesen und musste aber gleich weiter. Jetzt hatte er ein bisschen mehr Zeit dabei. "Gemütlich habt ihr's hier." An der Tür scharrte es. Othello. Ich stand auf, drückte die Klinke, und sofort quoll Othello durch die Tür, zusammen mit seinen zwei Kumpels Fiocco und Anton. Alle drei Hunde sprangen zielstrebig aufs Bett. Fast alle Hundehalter beteuern, dass die Hunde nie aufs Sofa oder aufs Bett dürfen. Und ich vermute, dass einige die unglaubliche Charakterstärke haben, diese Maßnahme auch durchzuziehen. Othello ist zwar nicht klein. Aber die beiden weißen Maremmanos Fiocco und Anton sind halt richtig große Wachhunde. Der schnurrende Ammonit ließ sich nicht stören, die Hunde drapierten sich um ihn herum auf dem Bett und betrachteten Rainer. Ich goss ihm von der lauwarmen Brühe ein, mir auch. Immer noch kein Mundschutz. Hm. Ich beschloss, das Thema auch gar nicht anzuschneiden und wollte auch, dass es mich nicht interessierte. Wir unterhielten uns über seine Tierarztpraxis, über die neuen Medien, über die amerikanischen Wahlen, über Wulle, über unsere Ehefrauen. Dann ging er.
Ich kann's jetzt noch nicht glauben. Nur irgendwelche anderen Themen. Wie konnte das nur geschehen?
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