StartseiteWurzel — Geschichten: Raunächte

Raunächte


Othello Othello Wulle Anton und Fiocco Lamm Bauwagen Anton


 

INHALT

 

Gefangen im Thema Nummer eins

Angst vor den Nachbarn

Wulle und der Arzt

Raunächte

Der Junge im Schrank

Die Corona-Insel

Aliens

 


nächster Text

Raunächte

Wie mir meine Tiere helfen, die Menschen ein wenig mehr zu lieben und die Welt ein bisschen besser zu verstehen.

 

 

Othello schläft normalerweise zwischen Bettina und mir am Fußende des Bettes. Bettina steht immer viel früher auf als ich. Immer. Vor sechs Uhr, auch am Wochenende. Othello nimmt das als Startschuss in den neuen Tag. Ich nicht.

Draußen krähen die Hähne. Dieses Jahr sind es fast dreißig Hähne, die um diese Uhrzeit langsam anfangen sich einzukrähen. Gott, ist das ein Krach.

Wenn Bettina die hölzerne Bauwagentür öffnet, das schummrige Licht draußen unterm Eingangsvordach anmacht, dann geht's richtig los. Ein paar Hühner haben sich seit einiger Zeit beim Eingang einen illegalen Platz erobert, an dem sie unter anderem haufenweise Gartendünger produzieren. Ein Hahn befindet sich auch unter den Illegalen. Beim Anblick der frühen Bettina kräht er. Natürlich kräht er. Aber mir macht das nichts. Ich schlafe.

Vom Stall drüben ertönt multiples Antwortkrähen in den verschiedensten Tonlagen. Glücklicherweise sind die nächsten Nachbarn fast dreihundert Meter entfernt.

Wahrscheinlich ist es aber auch aus dieser Entfernung ein allmorgendlicher Krähtsunami.

 

Unser Bett ist am hinteren Ende des Bauwagens und eingerahmt von drei großen doppelverglasten alten Fenstern, die man aber nicht teilen kann, um sie innen zu putzen. Sie sind deshalb recht dreckig, verschmiert. Aber wir sehen das meistens nicht mehr. Wir sehen es vor allem dann, wenn Gäste kommen, die wir nicht so richtig einschätzen können. Aber selbst Katharina, unsere liebe Freundin, die furchtbar sauber ist, stört der Dreck nicht. Und zu den Gästen sagen wir, es sind Fenster mit selbstintensivierender intransparenter Deko-Innenbeschichtung. Nicht nur der Staat kann Doppeldenk verbreiten.

 

Im ersten Stock der Scheune schlafen die beiden Maremmanos, um die Hühner vor dem Fuchs zu schützen. Als Bettina und ich mal mit Othello ein Jahr lang in Europa unterwegs waren (ein Hund braucht ja Auslauf), wollte ich eigentlich alle Hühner vorher schlachten, Abnehmer hätten wir gehabt. Aber Katharina hat sogar regelrecht darum gebeten, auf die Hühner aufpassen zu dürfen. Als wir wieder ein Jahr später wieder da waren von unserer etwas ausgedehnten Gassi-Runde, erzählte Katharina mit noch überhaupt nicht abgeklungenem Entsetzen, dass der Fuchs meine Arbeit übernommen hat. Wenn ich ein Huhn schlachte, dann geht das ruhig und schnell. Beim Fuchs nicht.

 

Auf alle Fälle haben die Hühner jetzt Ruhe, denn nach unserer Heimkehr sind die beiden Herdenschutzhunde Fiocco und Anton bei uns eingezogen. Erst haben sie das nicht so verstanden, was ihre Aufgabe sein sollte. Sie spielten mit den Hühnern immer ziemlich erfolgreich Fuchs. Das war zwar aus ihrer Sicht ein witziges Spiel, mit vielen lustig auf der Wiese verteilten Flaumfedern, aber irgendwie waren die Hühner eben doch nicht ganz so stabil wie das Hundespielzeug ausm Supermarkt. Jetzt aber, nach einem ziemlichen Hühnerverschleiß haben sie es kapiert. Und deshalb schlafen sie auch bei den Hühnern drüben. Der Fuchs findet den Hühnerstall jedenfalls nicht mehr so attraktiv.

 

King Kong schläft an meinem Kopf unter einem kleinen Bücherregal. Der Kater hat eigentlich nur eine Aufgabe: Er verbreitet Ruhe. Ich genieße es so, wenn sein Schnurren die tiefen dunklen Gänge meiner Träume hinabfließt. In einem dieser tiefen dunklen Gänge fällt ein Sack Zement auf meinen Bauch. Der Sack Zement heißt Anton und wiegt fünfunddreißig Kilo.

Anton hat Bettinas Aufwachen zum Anlass genommen, sich von seinem Heugemach in der Scheune zu erheben, um mich zu wecken. Er nimmt noch einmal Anlauf und bohrt seine Schnauze zwischen meinen Hals und mein Kissen. Was er da will, weiß ich nicht. Er riecht intensiv nach Heu.

 

Bettina haut ein paar Scheite zu Kleinholz, wirf sie in den Ofen zu einem schon brennenden Stück Pappe. Irre, wie schnell es in dem kleinen Bauwagen warm wird. Wir werden oft gefragt, ob wir unsere Wohnung nicht vermissen, vor allem jetzt, wo es doch so kalt ist. Ich sag dann immer, wenn wir die Bauwagentür ein bisschen aufmachen, kann die Hitze raus, dann ist es angenehmer.

 

Der Ofen heizt schnell auf, und dann kommt die Hauptzeremonie. Ich bin dreiundfünfzig. Und wie alle Kinder liebe auch ich Kaba. Wenn die heiße Schokolade eine Weile auf dem Ofen vor sich hinblubbert, dann schmeckt sie irgendwann fast wie Pudding. Hammer.

 

Grad ist Lockdown. Ich vermute zwar, dass das ein volkswirtschaftlicher Genickbruch ist, aber kurzfristig merke auch ich eine spürbare angenehme Entschleunigung, die sich zu der spirituellen Innerlichkeit der Raunächte gesellt. Die Raunächte sind für mich ohnehin seit ein paar Jahren eine willkommene Zeit der Ruhe, der Entspannung und Sammlung. Ich glaube, es ist die tiefste und besinnlichste Zeit der Einkehr im ganzen Jahr.

 

Bettina reicht mir die heiße Tasse. Ich richte mich langsam im Bett auf, schlürfe vorsichtig das herrlich duftende Getränk. Die Hähne haben aufgehört zu krähen. Othello und Anton dösen zusammen mit King Kong auf dem Bett. In mir entspannt sich etwas ganz tief.

 

Dann kommt Fiocco hereingestürmt...

 

 

nach oben - nächster Text