StartseiteWurzel — Geschichten: Die Corona-Insel

Die Corona-Insel


Othello Othello Wulle Anton und Fiocco Lamm Bauwagen Anton


 

INHALT

 

Gefangen im Thema Nummer eins

Angst vor den Nachbarn

Wulle und der Arzt

Raunächte

Der Junge im Schrank

Die Corona-Insel

Aliens

 


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Die Corona-Insel

Wie mir meine Tiere helfen, die Menschen ein wenig mehr zu lieben und die Welt ein bisschen besser zu verstehen.

 

Wir haben's nicht so mit der Ordnung. Und die meisten Deutschen sind perfekte Ordnungsprofis, das merken wir vor allem dann, wenn wir von woanders nach Deutschland zurückkommen. Und der nächtliche Wind vorige Woche war wohl ein ziemlich deutscher Wind. Er hat meine neueste Baupfuschkreation, ein hübsches Bauwagenvordach an der Längsseite des Bauwagens, in die Wiese geschmissen. Ich persönlich finde das eine eher verletzende und ein bisschen übertriebene Kritik an meinen zugegebenermaßen eher wackeligen Bemühungen, die Welt, oder zumindest unser beider Leben, ein bisschen schöner zu machen.

 

Wie der Wind in der Nacht, so kommen auch immer wieder andere Profis zu uns. Mein Schwager ist Schreiner und geht bei uns totz allen Wohlwollens vorsichtshalber mit geschlossenen Augen um all das in einem weiten Bogen herum, was nach Holz aussieht. Ich glaube, dem netten Apfelbauern Frederick von einem kleinen Weiler in der Nähe wird's ähnlich schwummrig vor Augen, wenn er versehentlich Zeuge meiner Obstbaumschneidemaßnahmen wird. Und ein erfahrener Imker hat mir mal geraten, ich solle das mit den Bienen besser lassen.

 

Auch unsere liebe Freundin Katharina ist sehr ordentlich und in vielen Dingen echt perfektionistisch. Aber irgendwie mag sie uns und unsere kleine Insel dennoch.

Beim gemeinsamen Frühstück ist uns mal aufgefallen, dass Vollkommenheit und Perfektion zwei verschiedene Dinge sein müssen. Wahrscheinlich sind Bettina und ich einfach nicht perfekt. Als unperfekten Ersatz für unsere nicht vorhandene Perfektion dient uns wohl einfach der Genuss der unbegreiflichen Vollkommenheit dieser seltsamen Welt und die Freude über unsere Freunde – und die Winde, die uns alle manchmal zerzausen.

 

"Das darf auch niemand sehen", sagte Katharina am Morgen nach der windigen Nacht, als sie uns bei einem Frühstück im mollig warmen Bauwagen strickend vertraute Gesellschaft leistete und der Kater King Kong gemächlich über den gedeckten Tisch trottete.

"Nein, das darf niemand sehen", sagte ich. Aber ich musste nicht Ksch sagen. King Kong legte sich ohne Zwischenstopp bei der Butter zu mir und den Hunden aufs gemachte Bett.

"Was steht bei euch heute an?", fragte Katharina uns beide.

Bettina hob kurz die Schultern. "Nicht viel."

Ich musste nicht lange nachdenken. "Das Vordach", meinte ich. "Oder das, was davon übrig ist."

Aber Lust hatte ich keine.

In Bettinas Jackentasche klingelte das Telefon. Sie holte das Gerät heraus, drückte den grünen Knopf und dann die Freisprechfunktion.

Werner. "Hey, ihr Schnuckis!"

Schnuckis? Werner und ich treffen uns immer wieder zum Bogenschießen. Wir sind ernstzunehmende Krieger. Indianer und so. Keine Schnuckis.

"Habt ihr Zeit heute?"

Ich erzählte ihm von dem kaputten Vordach und dass ich eigentlich keine Lust hatte, das heute anzupacken, aber es musste sein. Also, Klartext: "Nein, ich hab leider keine Zeit."

"Wir kommen. Zusammen kriegen wir das hin. Werkzeug hast du ja. Soll ich einen Akkuschrauber mitbringen?"

"Ähm. Wie? Wir sitzen grad am..."

"Ach, egal, ich bring einen mit. Und meine Stichsäge auch. – Wär elf okay?"

"Ähm... elf?" Bettina nickte. Sie freute sich ganz offensichtlich. Ihre Augen. Das kann ich eigentlich immer sehen, da muss sie gar nix sagen. "Ja. Ja, elf ist gut."

"Gut bis gleich." Klick.

Das ist Werner.

 

Um elf war Katharina schon weg. Ich hörte die Hunde laut bellen. Sie sind unsere Klingel. Also rannte ich vor zur Straße.

"Uns fällt voll die Lockdown-Decke auf den Kopf", winkte Werners Frau Christine lachend. "Hab ich mich gefreut, als du von dem kaputten Dach erzählt hast." Sie schaute zu Werner rüber. "Kannst ihm keine größere Freude machen!"

Werner nickte.

Ich umarmte erst Christine, dann ihn.

Dann sah ich, wie sich Jens aus dem Auto schälte, der schon erwachsene Sohn der beiden. Und mit einer alten, blauen Werkzeugkiste aus Metall in der Hand kam er zu uns her.

Ich umarmte ihn nicht, weil ich wusste, dass er das nicht mag. Aber wir schüttelten uns herzlich die Hände und freuten uns auf einen tatkräftigen Nachmittag.

 

Irgendwie hatte das kaputte Vordach mein Blut erstarren lassen. Aber jetzt floss der Lebenssaft wieder in meinen Adern. Freunde.

Wie gut hatte uns Katharina heute morgen getan, und wie wohltuend und motivierend sprühte Werners Energie jetzt auf uns alle über.

Bald stand das Vordach so schön und stabil wieder am Bauwagen wie ich es – zumindest an diesem Tag – halt einfach nicht hätte machen können. Jetzt hätten die Profis gerne kommen dürfen!

 

Als es Abend wurde, heizte Bettina noch schnell den Lehmbackofen an und walzte in ein paar gusseisernen Pfannen Pizzateig platt. Jeder belegte seinen Teig selbst, das ist bei Bettina so. Dann saßen wir kurze Zeit später, zufrieden und auch müde, im Bauwagen und kauten hungrig unsere Pizzas. Fiocco, der große Maremmano-Herdenschutzhund, der Alpharüde, hatte sich neben Jens aufs Bett gesetzt und schaute in die Runde wie ein mahnender Polizist.

Christine schaute auf die Uhr: "Wir müssen. Sonst wird's teuer. Um acht ist Sperrstunde."

 

Als sie gegangen waren, saß ich einfach noch eine Weile schweigend mit Bettina da. Was für ein Tag!

Dann klingelte wieder das Telefon. Diesmal meines. Auf dem Display stand "Reinhard". Wir kennen uns von früher. Er hat große Angst wegen den Nachrichten, die in der Tagesschau kommen, all die schlimmen Bilder, die Leichen, die Särge, die entsetzten Journalisten.

Er erzählt immer, wie es da draußen aussieht und wie er sich vorsichtshalber in seine Wohnung zurückzieht. "Und wie ist es bei euch?", fragte er mit besorgter Stimme. "Seid ihr nicht einsam? Ist es euch nicht langweilig?"

 

 

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